Der kleine Heißluftballon auf der Suche nach dem Heimatgefühl

  Lufti1 Eines Tages bekam der kleine Wissenschaftler, der in seinem Leben schon vieles Nützliches erfunden hatte, den Wunsch die Welt einmal aus einem neuen Blickwinkel betrachten zu können. So kam es, dass er einige Tage und Nächte an seiner neusten Erfindung tüftelte. Einem kleinen Heißluftballon mit integrierter Kamera, die es dem kleinen Wissenschaftler möglich machen sollte den Weg des Heißluftballons zu verfolgen. Der kleine Heißluftballon war wirklich sehr klein, nur in etwa so hoch wie die Sitzfläche eines Stuhles. Seine Hülle war mit Mustern in verschiedenen Grüntönen verziert und als Besonderheit war eine kleine Flugbrille um die Hülle gespannt. Ganz gespannt, ob seine neue Erfindung wohl seine Wünsche erfüllen würde, ging der Wissenschaftler an dem Abend früh schlafen und vergaß dabei die Tür zu seiner Werkstatt zu verschließen. Ein fataler Fehler wie sich herausstellte, denn durch Zufall schlich sich in der Nacht die kleine Katze Ariel ins das normalerweise verschlossene Räumchen und stieß bei ihrer Klettervorführung eine kleine Schale um, bevor sie aus dem Fenster sprang und auch nun dieses weit geöffnet war. Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander, Bücher lagen auf dem Boden, die Schubladen waren halb ausgeräumt worden und der feine Staub aus der Schale hatte sich über der Hülle des Heißluftballons und auf dem umliegenden Boden verteilt. Und dann geschah das Unglaubliche, was wohl niemand je glauben würde. Durch eine Windböe wurde der feine Staub aufgewirbelt und ein Niesen durchbrach die Stille. Hatschi! Die Augen des Heißluftballons öffneten sich. Den Sand aus den Augen reibend nieste er ein zweites Mal und ein kleines geschocktes Quietschen gesellte sich in die nun gebrochenen Stille.

Ruckartig fuhr der kleine Heißluftballon herum und entdeckte hinter der Schublade rechts von ihm einen kleinen grauen Kopf. Er rieb sich erneut die Augen. Zum ersten Mal sah er bewusst die Welt um sich herum. Der kleine graue Kopf über der Schublade gehörte einer kleinen Maus, die das Wunder, das gerade geschehen war, beobachtet hatte. Ihre Blicke trafen sich. Schnell versuchte die kleine Maus sich zu verstecken, durchwühlte die Schublade und verkroch sich in einer Schachtel, in der sich einige verrostete Nägel befanden. „Hallo? Wer bist du?“ Maus Der kleine Heißluftballon versuchte die Maus, die ihm völlig fremd war hervor zu locken, doch sie schien ihn nicht zu verstehen. „Qu‘est-ce que tu voudrais? Mon dieu! J’ai peur.“ Bitte was sagte die Maus da? Der kleine Heißluftballon verstand nur Bahnhof. Deutsch oder wie man die Sprache nannte, die er selbst sprach, hörte sich vollkommen anders an. Langsam versuchte er sich zu bewegen. Es fiel ihm schwerer als gedacht. Sein erster Versuch endete in einem Sturz, sein Zweiter fand ein abruptes Ende im Wandschrank und sein Dritter scheiterte an einem Blumentopf. Doch der kleine Heißluftballon gab nicht auf und versuchte es immer und immer wieder. Er wusste, dass er es schaffen würde.

Von den ganzen Fehlversuchen des Heißluftballons nach draußen gelockt traute sich die Maus ihren Schutz in der Schublade zu verlassen und das Treiben von der Tischplatte aus zu beobachten. Als der kleine Heißluftballon sie wahrnahm versuchte er erneut sie anzusprechen. Diesmal ganz langsam und deutlich. „Hallo. Kannst du mir vielleicht helfen?“ Die kleine Maus überlegte schnell. „Oui, ja, das kann ich. Aber je ne suis pas sûre, also ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Schließlich kenne ich dich nicht. Meine Mama, ma mère, hat mich immer davor gewarnt fremden Wesen zu vertrauen. Was bist du eigentlich? So ein Wesen wie du es bist kenne ich nicht. In meiner Heimat gibt es so etwas wie dich nicht. Non, non, non!“

„Hm. Ob das meine Mama wohl auch gesagt hätte? Ich habe gar keine Mama. Ich habe nur einen Erfinder als Vater. Mein Papa ist Wissenschaftler. Er hat sehr viel Zeit in meinen Bau investiert. Ich bin nämlich ein ganz besonderer Heißluftballon. Wie die großen fahre ich durch den Himmel -“, die Maus unterbricht ihn. „Fahren? Hast du vielleicht Fieber? Du hast keine Räder und bewegst dich deiner Beschreibung nach durch den Himmel. Du meinst bestimmt fliegen, da bin ich ganz sicher!“ Die kleine Maus wurde immer sicherer während sie sprach und sprang von der Tischplatte auf den Stuhl und von dort aus auf den Boden. „Bei einem Heißluftballon heißt es nicht fliegen sondern fahren, darauf verwette ich meine Ballonhülle. Das ist Fachsprache musst du wissen. Ein Heißluftballon fliegt nicht durch den Himmel, er fährt durch den Himmel. Du hast davon gesprochen, dass es mich in deiner Heimat nicht gibt. Wo bist du denn zu Hause?“ Langsam näherte sich die Maus weiter dem Korb des kleinen Heißluftballons. Die Neugierde hatte sie gepackt. „Ma patrie? Meine Heimat ist das wunderschöne Frankreich mit einer hervorragenden Küche. Exzellent! Ich frage mich bis heute, warum ich auf diesen Laster gesprungen bin. Jetzt werde ich wohl nie mehr nach Frankreich zurückkehren können.“ Der kleinen Maus kamen bei diesen Worten fast Tränen. „Und ich werde auch nie mehr meine Mama sehen.“ Der kleine Heißluftballon bekam schnell Mitleid mit der kleinen Maus. „Vielleicht können wir uns ja gegenseitig helfen. Sobald ich fahren gelernt habe bringe ich dich nach Frankreich. Allerdings bräuchte ich deine Hilfe beim Üben. Fahren erscheint mir schwerer als gedacht. Ich komme einfach nicht vorwärts.“ Resigniert schaute der kleine Heißluftballon zu Boden. Die kleine Maus musste lächeln: „Das finde ich eine tolle Idee. Dann habe ich vorhin ein paar deiner Flugübungen beobachtet? Sehr vielversprechend.“ Auch der kleine Heißluftballon musste nun grinsen.

Ab dieser Nacht trafen sie sich jeden Abend zum Üben, wobei treffen wohl das falsche Wort ist. Der kleine Heißluftballon konnte sich schließlich nicht von seiner Stelle bewegen. An einem Abend wurde es für die kleine Maus sehr gefährlich, da die Katze den ganzen Tag um den Heißluftballon schlich. Sie roch den Mäusegeruch und hoffte darauf sie fangen zu können, doch der kleine Heißluftballon schaffte es durch ein lautes Pfeifen die kleine Maus aufmerksam zu machen und so konnte die Katze die Maus nicht erwischen.Wissenschaftler

Um Mitternacht brachen die beiden Reisekameraden gemeinsam zu ihrer Reise auf. Hinter ihnen hörten sie noch das Miauen der Katze und ihre Fluche, doch sie lachten nur darüber. Alles war gut gegangen. Ihr Ziel jedoch lag noch in weiter Ferne. Was sie nicht wussten: Sie hatten ihre letzte Möglichkeit ergriffen zu fliehen. Am Tag darauf wollte der kleine Wissenschaftler seine neue Erfindung, den kleinen Heißluftballon, auf einer Messe vorstellen. Danach wäre Lufti wohl durch viele Labore gewandert, durch viele Werkstätten und Souris wäre allein zurückgeblieben.

2 Die ganze Nacht flogen sie durch. Sie überquerten das Land in Richtung Westen, dorthin wo am Abend immer die Sonne untergeht. Viele Stunden versuchte die Maus alle Empfindungen in sich aufzunehmen, keinen Baum am Boden zu übersehen und jedes Licht in einem Haus zu registrieren, doch bald ergriff die Müdigkeit von ihr Besitz und das Adrenalin wich aus ihrem Körper. „Lufti? Je suis fatiguée. Ich bin so so so müde, ist es in Ordnung, wenn ich schlafe während du fährst?“ Lufti wunderte sich über die Frage. Er wurde nie müde, er war eine Maschine und das machte ihn nachdenklich. „Qui, petite Souris“ („Ja, kleine Souris“), antwortete er und Souris freute sich über seine Versuche französisch zu reden. „Bonne nuit, gute Nacht“, waren ihre letzten Worte vorm Einschlafen und der kleine Heißluftballon nutzte die entstandene Ruhe und dachte über sein Leben nach. Wo war wohl seine Heimat? Was meinte eigentlich der Begriff Heimat? Und warum brauchte man eine Heimat? Er hoffte auf dieser Reise antworten auf seine Fragen und vielleicht auch seine Heimat zu finden.

Am frühen Morgen erwachte Souris. Die ersten Sonnenstrahlen hatten sie geweckt, ein wunderschöner Sonnenaufgang spiegelte sich auf dem Wasser unter ihnen. Der Fluss schien eine Schleife zu bilden und die Vögel erzählten sich gegenseitig davon, welche tollen Schmaus man am Boden bekommen würde. „Guten Morgen“, hörte sie den kleinen Heißluftballon. Sie erwiderte seine Begrüßung und gähnte herzhaft. „Wo sind wir hier? Die Vögel reden davon, dass es hier am Boden gutes Essen geben soll. Gibt es eine Möglichkeit einen kurzen Abstecher zu machen? Ich habe unfassbar großen Hunger.“ Ihre Aussage wurde sogleich von einem lauten Knurren ihres Bauches unterstrichen. Der kleine Heißluftballon lachte. Landemanöver hatte er zwar geübt, aber aus dieser Höhe erschien ihm das Ganze etwas kniffliger. „Halt dich gut fest. Es könnte holprig werden.“ Und schon begann eine wilde Fahrt. Die Maus schrie zeitweise. Es ging viel zu steil bergab, VIEL zu steil. „Wir werden im Fluss ertrinken. Aide! Hilfe!“ Souris wurde panisch. Sie hätte den Arm nur ausstrecken brauchen und hätte schon fast die Wasseroberfläche berühren können als Lufti endlich die Kurve bekommt. Ganz knapp über der Wasseroberfläche gleiteten sie dahin. Es war ein unfassbar schöner Anblick, aber der Schock saß tief.

Mehrere Minuten genossen sie den Anblick von wunderschönen Wäldern auf der einen und einer kleinen Stadt auf der anderen Seite. Es war eine rundum harmonische Atmosphäre, doch der Schein trügte. Ein lautes Pfeifen durchbrach die Stille und Lufti prallte an einem Schiffsrumpf ab. Souris flog aus dem Korb, konnte sich aber noch gerade so am Korbrand festhalten. Lufti strauchelte heftig. Souris schrie laut und bei dem zweiten Stoß verließ Souris die Kraft und sie fiel mit einem leisen Platsch ins Wasser. Lufti blieb keine andere Wahl und traf in einer Notlandung ebenfalls das Wasser. Zum Glück schaffte er es aufrecht zu bleiben, sodass sein Korb auf dem Wasser schwamm und er nicht weiter unterging. Sein Blick scannte das Wasser ab. Er sah sie nicht. Er sah Souris nicht mehr. Wo war sie nur? Konnte sie überhaupt schwimmen? Panik breitete sich in dem kleinen Heißluftballon aus. Er schien sie verloren zu haben. Wirklich verloren.

Am Ufer bekam auch einer diese Notlandung mit. Lenox, der Labrador, war wie jeden Morgen von seinem Besitzer früh aus dem Haus gelassen worden, eigentlich ja nur in den Garten, aber Lenox hatte ein Loch im Zaun ausgenutzt. Als er jetzt diese Bruchlandung sah, glaubte er daran, dass es Schicksal gewesen sein musste. Mit einem Satz sprang er ins Wasser und begab sich auf die Suche nach der kleinen Maus, die den Halt verloren hatte. Das Gefährt der Maus kannte er nicht, aber es kam ihm bekannt vor. Etwas Ähnliches glaubte er schon einmal gesehen zu haben. Nach kurzer Zeit fand er das zappelnde Wesen im Wasser und nahm es auf seine Nasenspitze. Vollkommen verängstigt klammerte sich Souris an der feuchten Nasenspitze fest. Sie hatte kalt. Sie hatte Angst. Mit kräftigen Zügen schwamm Lenox zurück ans Ufer, schüttelte sich an Land einmal ordentlich aus und legte die Maus auf dem Moos ab. „Hey du! Sag doch bitte was! Mach die Augen auf. Du bist an Land. Du bist in Sicherheit“, versuchte Lenox die Unbekannte zu beruhigen. Er hatte sie gerettet. Er hatte es wirklich geschafft. Am Ufer hörte er erneut ein lautes Plätschern und Lufti gelang es noch gerade bis zu Souris, dann ließ er seine Flamme erlischen, die es ihm ermöglichte überhaupt zu fliegen. Dank Lenox schafften es die beiden Reisekameraden in ein Gartenhäuschen, indem sie sich wärmen konnten.

Vor lauter Erschöpfung kuschelte sich Souris in eine Hundedecke und schlief einige Stunden. Am Abend wollten sie nach einem gemütlichen Abendessen zu dritt wieder weiterfliegen. Mit der Hilfe von Lenox schaffte es Souris Lufti nochmal mit Strom zu laden und seinen Gasbrenner anzubekommen. „Und das hier ist deine Heimat“, fragte Lufti Lenox, dem er zu großem Dank verpflichtet war. „Das hier ist mein Zuhause, hier ist meine menschliche Familie, hier lebe ich, aber meine Heimat habe ich schon als Welpe verlassen.“ „Pourquoi? Warum“, stellte Souris die Frage aller Fragen. „Das ist bei uns Hunden meistens so. Wir kommen auf die Welt, bleiben eine gewisse Zeit gemeinsam mit unseren Geschwistern bei unserer Mama und werden dann in andere Familien verkauft. Ja, so ist das bei uns.“ Schweigsam aßen sie weiter. Souris hatte ein Stück Käse bekommen, Lenox kaute auf seinem Knochen und Lufti genoss es einfach, einmal nichts sagen zu müssen. Dann erklang ein lauter Ruf: „Lenox, jetzt abba dabba! Komm rinn.“ Souris schaute verwundert Lenox an. „Qu’est-ce que c’est? Was ist denn das? Was meint der Mensch damit?“ Lenox lachte. „Das ist der Dialekt hier. Abba dabba, komm rinn bedeutet hier im Saarland so viel wie Beeil dich endlich, komm rein, ich warte auf dich. Es ist wie eine eigene Sprache.“ „Also hast du hier in deinem Zuhause auch eine andere Sprache gelernt“, fragte Lufti verwundert. „Nein nein, diesen Dialekt kenne ich schon aus meiner Heimat. Es ist wie ein Teil meiner Heimat, der mich nie verlassen hat. Früher lebte ich auch schon an der Saarschleife. Nur in einem anderen Ort und einem anderen Haus.“ „Die Sprache ist also auch ein Teil Heimat? Interessant.“ Lufti wurde nachdenklich bei dieser Erkenntnis. Doch ihm sollte auch noch viel Zeit bleiben darüber nachzudenken, denn Lenox musste jetzt gehen und er und Souris wollten gesättigt aufbrechen.

Schnell verstaute Souris wieder alles in Luftis Korb und verabschiedete bei Lenox, bei dem sie sich auch vielmals für die Rettung bedankte. „Macht es gut ihr zwei! Einen guten Flug in die Heimat! Kommt doch irgendwann nochmal vorbei.“ Und mit diesen Worten brachen sie wieder auf und durchdrangen die Dunkelheit der Nacht.

3 Die Landung am Abend des nächsten Tages war geplant und verlief daher auch ohne Komplikationen. In einem Stall wollten sie die Nacht verbringen, doch da machten sie ihre Rechnung ohne Mika, den Hofkater. Er lauerte im Heu und hoffte darauf Souris in einem unaufmerksamen Moment fangen und fressen zu können, doch Harpa, eine schöne tiefschwarze Stute bemerkte sein Vorhaben. „Hey“, schnaubte sie laut. „Kommt her ihr zwei! Ansonsten werdet ihr gleich einer weniger sein. Mika, der Hofkater hat es auf euch abgesehen. Besonders auf dich kleine Maus.“ „Musst du mir immer meine Jagd zerstören? Dummes Pferd.“ Mika war sauer. Immer funkte ihm dieses Islandpferd dazwischen, nur weil er sonst seine Reste immer vor ihrer Box liegen lies.

Lufti war sehr froh für diese Vorwarnung, schnell stieg er nochmal hinauf in die Lüfte und landete erst wieder in der Box des freundlichen Pferdes. „Hallo ihr zwei! Ich bin Harpa, ein Islandpferd und ihr?“ Beide stellten sie sich Harpa vor und bewunderten die Größe des Pferdes und die Dicke ihres Fells. „Du bist so kuschlig weich“, stellte Souris überrascht fest. „So weich habe ich mir Pferde nie vorgestellt.“ Harpa lacht mit einem tiefen Wiehern. „Das ist auch eine Besonderheit bei unserer Pferderasse. Wir sind immer schön kuschelig, auch im Sommer. Schließlich sind wir alle an die Wetterlage in Island angepasst, nicht wahr Linda“, sprach Harpa das Pferd in der Box gegenüber von ihr an. „Aber wir sind hier doch nicht in Island, oder“, fragte Lufti verwundert. „Nein nein, aber unsere Ursprünge liegen dort. Viele von uns haben ihre Jugend dort verbracht. Es ist die Heimat von uns Islandpferden. Dort liegen unsere Wurzeln.“ „Eure Heimat? Ich bin auf der Suche nach meiner Heimat und bringe Souris zurück in ihre Heimat. Was verbindet ihr mit eurer Heimat“, stellte Lufti eine für ihn sehr sehr wichtige Frage. „Du kennst deine Heimat nicht? Oje, du Armer“, bedauerte Linda, eine in die Jahre gekommene Scheckstute, ihn. „Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als meine isländische Heimat nicht zu kennen oder sie gar irgendwann zu vergessen.“

„Kann man seine Heimat überhaupt vergessen“, mischte sich Souris nochmal in das Gespräch ein. Linda warf Harpa einen traurigen Blick zu und schaute danach wieder Souris an, die unter der Boxentür hervorschaute. „Das meine Kleine ist eine gute Frage, aber ich glaube, dass das wirklich geschehen kann. Harpa beispielsweise ist in Deutschland geboren, ihre Wurzeln liegen zwar in Island, doch das Land selbst ist ihr unbekannt.“ „Und trotzdem ist Island deine Heimat?“ Lufti kam das seltsam vor. Warum sollte die Heimat ein Ort sein, den man gar nicht kennt? Harpa schaubte. Natürlich war Island für sie ihre Heimat. Sie hatte hier ein schönes Zuhause, aber ihre Heimat Island liebte sie ebenso sehr, auch wenn sie sie nur aus Lindas Geschichten kannte. Der Abend wurde noch sehr sehr lang. Linda erzählte noch viele Geschichten von diesem einzigartigen Land mit seinen Feen und Kobolden, seinen Tieren und Menschen. Sie betonte das einmalige Gefühl von Naturnähe, von Freiheit, von der Zusammengehörigkeit zwischen Menschen und Tieren. Sie erzählte von dem Land von Feuer und Eis, von ewiglangen Tagen und monatelangen Nächten. „Ich glaube, so eine Heimat könnte ich auch niemals vergessen“, meinte Lufti letztendlich. Souris ist mittlerweile eingeschlafen, gewärmt von dem warmen Atem von Harpa und in Stroh gebettet. „Linda. Darf ich dich etwas fragen?“ Lufti war kurz in seinen Gedanken vertieft. Die alte Stute brummelte zustimmend.

„Kannst du dir vorstellen, dass es Wesen gibt die keine Heimat haben?“ Linda blickte verblüfft drein, aber sie verstand sofort die Anspielung auf Lufti selbst. „Ich glaube, dass auch du eine Heimat hast, Lufti, aber dass du sie vielleicht niemals als solche wahrgenommen hast. Ich kann mir vorstellen, dass du versuchst deine Heimat zu verdrängen, weil du dir keine Heimat, sondern ein Zuhause wünschst“, beantwortete Linda seine Frage. „Denkst du ich kann mein Zuhause, das ich suche, auch irgendwann zu meinem Zuhause machen?“ „Eine Heimat kann man nicht einfach austauschen, Lufti, aber es kommt darauf an, was du daraus machst. Natürlich kannst du dein Zuhause als deine Heimat definieren, aber nur als deine zweite Heimat. Das wirst du aber noch alles lernen Lufti. Das verspreche ich dir!“ Mit diesem Versprechen brachen Lufti und Souris am nächsten Morgen wieder auf.

Das Wetter war hervorragend und das Gefühl von Zuversicht machte sich in Lufti breit. Heute würden sie das Ziel ihrer Reise erreichen. Ganz bestimmt. Sie überquerten weites, flaches Land. Irgendwann kamen einige Berge und die Landschaft veränderte sich. Am Nachmittag wurde es windig, doch auch das brachte keinen Abbruch der guten Laune der beiden Reisenden. In einem bildschönen Sonnenuntergang machte Souris die Entdeckung. „Ici, ici, ma patrie!“ Sie landeten vor einem alten Bauernhaus aus dem ein himmlischer Geruch dringte. „Hier ist also deine Heimat“, stellte Lufti verwirrt fest. „Oh ja! Hier bin ich geboren, hier lebt meine Familie, hier bin ich zuhause!“ Eine ebenfalls graue Maus kam aus einem Loch in der Hauswand gestürmt. „Ma petite! Meine Kleine! Oh wie schön dich zu sehen!“ Die beiden Mäuse nehmen sich in die Arme und Lufti versteht was Linda gemeint hatte. Seine Heimat war die Werkstatt, dort wurde er erschaffen, dort kannte er jeden Winkel, doch sein Zuhause hatte er erst auf der Reise gefunden.

Sein Zuhause ist die ganze Welt, sein Zuhause ist das Reisen, das Reisen mit Souris, denn Freundschaften machen das Leben erst lebenswert.

© Cecilia Klein